Hamburg, 24.09.2012

 

Vorgestern ging das Oktoberfest wieder los. Hier in Hamburg ist das durchaus ein Thema – Freunde äußern den Wunsch, da mal hinzufahren, da das Oktoberfest einen legendären Ruf hat und sie das mal erleben wollen. Da ich drei Jahre meines Lebens in dieser nach Gütersloh zweitschlimmsten Stadt Deutschlands verbringen musste, möchte ich hier gern mit ein paar typischen Vorstellungen aufräumen und dieses Volksfest aus einer neutralen Warte schildern – „neutral“ ist ein dehnbarer Begriff und bedeutet hier: Weder aus der Sicht eines dunkelbayrischen Brauchtumspflegers noch aus der Sicht eines Junggesellenabschieds auf der Reeperbahn gesehen, sondern eben aus der Mitte heraus.

 

Die Basis des Oktoberfests (für die dreimalige Nennung dieses Begriffs droht mir übrigens ewige Verdammnis) ist ein Volksfest. Ein rechteckiger Platz, die Theresienwiese, neben der ich zwei Jahre gewohnt habe. 42 Hektar in Münchens Westen, größer isse nicht. Da gibt’s dann Buden und Karusselle. Gegen die Karusselle sei nichts gesagt, aber die Buden warten primär mit einer minimalistischen Auswahl auf. Lebkuchenherzenbude, Bratwurstimitatbude, Souvenirs-für-australische-Touristen-Bude, Zwergenfischbude, und dann geht’s wieder von vorne los. Jede Stadt ab 50.000 Einwohnern hat auf ihrem jährlichen Stadtfest mehr Auswahl zu bieten. Die Souvenirs werden ausschließlich von australischen Touristen verkauft, auf die meterhohe Filzhüte, überdimensionierte Plastikbrillen mit Blinklichtern und „Beer is my Life“-Tshirts wegen des Exotenbonus magische Faszination ausüben. Die Bratwürste sind ein Thema für sich –

 

Kurzer Exkurs: Als Ostwestfale bin ich es gewöhnt, dass Bratwürste konträr zu ihrem Namen auf Holzkohle-, mindestens aber auf Gasgrills zubereitet werden, um ein ordentliches Grillaroma und eine knackige Konsistenz zu erzeugen. Der Münchner ist da anders sozialisiert. Dort werden Bratwürste in einer Fettwanne (ummanteltes Blech mit heißem Öl) in ein wabbeliges Etwas mit der Konsistenz eines halberigierten Eselpimmels und dem Fettgehalt eines Bechers Schmand verwandelt.

 

Nun ja. Wer die Aufzählung von Bierbuden vermisst hat – das entscheidende auf dem Oktoberfest ist ja nicht die spärliche Budenauswahl, sondern die Zelte. Diese stehen am Rand der Wiese und sind das Primärziel der Massen. So ein Zelt fasst 5.000 Leute, 10.000 werden hineingequetscht. Einige der Zelte werden von bestimmten sozialen Gruppen bevorzugt. Da gibt’s ein Zelt für C-Prominente, eins für C-Prominenten-Groupies (hätte man die nicht besser in ein Zelt gepackt?), eins für Homosexuelle, eins für australische Touristen und so weiter. Details habe ich verdrängt, aber im Institut führten zum Oktoberfestbeginn ansonsten zurechnungsfähige Menschen Dialoge wie „Also wir haben Plätze im Filzläusezelt bekommen!“ – „Oohhh Du Glückliche, wir haben bloß noch welche für’s Sackrattenzelt.“ – „Ach, da ist es doch auch ganz schön…“ Ganz schön?!? Also, die Zelte. Man kommt rein und fühlt sich direkt an eine Fahrt mit der U6 kurz vor einem Bayern-Heimspiel erinnert, sowohl was die qualvolle Enge als auch was Trunkenheit und Niveau der Anwesenden betrifft. Gänge führen durch das Zelt und um die langen Holztische und –bänke herum. Die Gänge sind zum Bersten voll, die Tische sind zum Bersten voll, die Leute sind zum Bersten voll. In der Mitte des Zeltes ist ein riesiges Podest aufgebaut, auf dem die Band steht. Ich habe einen breit aufgestellten Musikgeschmack. Was ich aber hasse, sind Schlager und Blasmusik. Die Band spielt Schlager als Blasmusik, von morgens bis abends. Die sturzbesoffene Meute singt, klatscht, johlt und gröhlt begeistert mit.


Wenn man reserviert oder unglaubliches Glück hat, kann man sich an einen Tisch setzen und etwas zu Essen bestellen. Getränke kriegt man auch, wenn man im Gang steht wie die meisten. Für geschmeidige 10 Euro bekommt man ein halbes Hähnchen. Und sonst nix. Doch, einen Teller. Beilage, Salatdeko, Serviette und Besteck sind bei dem Schnapperpreis nicht drin, in einigen Zelten gibt’s aber immerhin einen Holzpieker dazu. Beim Essen sitzt man gern – hier möglich, aber schwierig. Tische, Bänke und Boden sind bedeckt von Lachen aus Bier, zu späterer Stunde gesellen sich noch zahlreiche Hähnchenportionen dazu, dann halt rückwärts gegessen. Mit Glück oder einem 10er-Pack Taschentücher ist das Sitzeckchen aber trocken bzw. –legbar. Bier und Hähnchen werden serviert von dirndltragenden –

 

Kurzer Exkurs: Australische Touristen schwärmen immer von Frauen in Dirndln. Insofern zu Recht, als Dirndl bestimmte Teile des weiblichen Körpers kaschieren und andere betonen. Konkret wirkt es wie ein Korsett und hat einen Ausschnitt bis zum Bauchnabel. Ansonsten ist es in keinster Weise attraktiv. Stellt man sich das Dirndl ohne Ausschnitt vor, sähe seine Trägerin nämlich aus wie eine ukrainische Kartoffelbäuerin. Und löst man die Verschnürung, gelten plötzlich wieder die Gesetze der Schwerkraft. Klassische Mogelpackung.

 

Wo war ich? Ach ja. Die Serviererinnen. Können ein Dutzend Literkrüge auf einmal tragen. Liegt daran, dass sie vor zwei Jahren noch bei Olympia angetreten sind – für die ukrainische Kugelstoßmannschaft der Männer. Ohne ein charmantes Lächeln wird einem ein zu zwischen 50% und 75% gefüllter Literkrug Bier vor die Nase gerummst und sofort kassiert. Trinkgeld unter einem Euro hat den sofortigen Verweis aus dem Zelt zur Folge. Nur wer garantiert nach diesem Bier gehen möchte, sollte zwischen einem und 1.99 Euro Trinkgeld geben, denn es wäre das letzte Mal für diesen Abend, dass die Kellnerin am Tisch vorbeikommt. Erst ab zwei Euro Trinkgeld ist die weitere Versorgung mit Bier gewährleistet. Das Bier ist übrigens Helles, eine Art Lager, an sich sehr lecker, nach 90%iger Leerung eines Literkruges (die zumindest ab Krug Nummer 2 nicht mehr so zügig von statten geht) besteht der Rest aber zu 50% aus Bier und zu 50% aus Speichel, was ziemlich eklig ist (außer für australische Touristen, denen alles egal ist). Während man dann sein Hähnchen isst, muss man auf seinen Teller und sein Glas ziemlich aufpassen, denn alle anderen stehen auf den Sitzbänken, besprenkeln ihre nähere Umgebung mit Bier und singen begeistert die Stimmungstöter der Arschgeigenkombo mit. Das geht so weiter bis 22:00, ab dann gibt’s nichts mehr zu Trinken, und wer um 23:00 das Zelt noch nicht verlassen hat, kriegt auf’s Maul. Draußen noch mal auf schlafende Besoffene gekotzt und ab in’s Taxi, das einen für mittlere zweistellige Beträge auf lustigen Umwegen nach Hause fährt. Und am nächsten Tag noch mal das ganze, weil’s so schön war.

 

Ich sach’s euch – gibt besseres.

 

Der Autor dieser Zeilen ist not amused.

 

Ein Bier später ging’s dann.